Bin ich schon Alt?

Vielleicht, von der Zahl der Jahre, die ich mein eigen nenne, schon. In meiner Kindheit waren Leute jenseits von fünfzig oder sechzig oft schon am Grab, oder zumindest habe ich so gedacht. „Stein alt“ hat man immer gesagt. Leute, die ihre Sätze mit „Zu meiner Zeit“ begannen. Die hatten zu jedem Thema etwas zu sagen und für jedes Altersproblem eine altbewährte Lösung. Meist waren die Ratschläge einfach und in der Praxis schon von den Ratgebern erprobt. Es waren Leute in komischen Klamotten, mit Hüten oder Baskenmützen. Die Männer trugen Stoffhosen und Jacken oder Sakkos. Diese Kleidungsstücke waren oft abgetragen, aber immer sauber und meist gebügelt. Jeden Tag ein frisches Hemd, am Sonntag eine Krawatte. Die Frauen trugen immer Kleider oder Röcke, zu Hause immer einen Hausrock oder eine Schürze, manchmal auch beides. Manche waren mit Gehstöcken unterwegs. Nicht mehr so schnell, aber immer mit Würde und einem gewissen Stolz. Man hatte überlebt, die Schwierigkeiten gemeistert und etwas erreicht. Eine Familie gegründet, Kinder gezeugt und großgezogen. Sich um deren Ausbildung gekümmert. Selbst einen Beruf erlernt und ein Leben lang ausgeübt, meist sogar im gleichen Betrieb. Wenn man einen Titel erlangt hatte, wurde man immer so angesprochen. Das Leben hatte einen Rahmen, eine klar erkennbare Richtung. Es gab immer eine Aufgabe zu erledigen. Und wenn die einmal definiert war, hielt man sich daran und brachte sie zu Ende. Aufgeben war keine Option.

Die Welt der Alten hat sich zwar im Laufe der Jahre verändert, aber nicht so, dass man es nicht mehr erkennen konnte. Vielleicht wurden die Kutschen durch Autos ersetzt, und um die Häuser zu heizen, musste man nicht mehr die Kohle schleppen oder Holz hacken. Aber das war immer noch die gleiche Welt wie in ihrer Jugend. Erkennbar gleich. Denn sie wurde durch die Rituale, die Traditionen und selbst durch die bloße Anwesenheit der Älteren definiert. Es waren die faltigen Gesichter, die man auf der Straße traf, die man freundlich grüßte. Manchmal sprach man eine Weile, hörte zu – nicht selten aus Respekt, aber auch, weil es immer etwas Neues aus der alten Zeit zu hören gab. Egal, wie paradox das klingen mag, ich liebte die Neuigkeiten aus der Vergangenheit. Erzählungen über Altershelden. Reiseberichte aus Ländern, die es nicht mehr gibt, von Kriegen, die keiner gewonnen hat, weil kein Krieg zu gewinnen ist. Ab und an schaute ich den Leuten einfach nur zu, wie sie gingen, sprachen, einfach wie sie waren.

Es waren für mich, vollkommen unbewusst, Meilensteine, die Richtungsweiser, wie Pole für einen Kompass, auf meinem Weg durch die Untiefen des Lebens. Ich stellte mir selbst die Fragen: Wie wird mein Leben in zehn, zwanzig, dreißig Jahren aussehen? Zu wem werde ich mich entwickeln? Werde ich überhaupt überleben?

Dann kam die Zeit, in der ich selbst eine Familie gründete und Kinder auf die Welt brachte, Karriere machte, zu Geld kam und alles wieder durch die Finger rieseln sah, um am Ende des Tages mit leeren Händen dazustehen.

Ich hob die Augen und schaute. Ich sah das erste Mal seit Jahrzehnten in die Welt, bin bewusst dabei, jede Einzelheit zu registrieren und zu bemerken, dass die Welt anders geworden ist. Selten hält einer an, um mit dem Nachbarn zu reden, man grüßt nur gelegentlich oder gar nicht. Die eigene Mundart ist verstummt. Fremde Gesichter, fremde Sprachen, Verhaltensweisen die man nicht versteht. Das Unwohlsein im eigenen Viertel, auf der eigenen Straße. Man ist verunsichert und verloren. Die Alten sind weg und mit ihnen auch die Kinder, das Lachen, Singen und die sorglosen Momente. Alle sind plötzlich gleich alt, gleiche, uniformartige Kleidung, die weder Alter noch Geschlecht verrät. Alle sind so weltoffen, tolerant, aber innerlich sind viele verschlossen und unzugänglich. Jeder ist für sich allein. Es gibt nichts Festes, um die schwierigen Zeiten zu überstehen, nichts Beständiges ist geblieben, woran man sich halten kann. Alles und jeder ist austauschbar und ersetzbar geworden. Es hat nicht einmal die eigene Familie in die schöne neue Zeit geschafft. Das Rennen um Anerkennung und Erfolg hat alles verschlungen, inklusive sich selbst.

Der erste Schritt ist getan, oder besser gesagt, man hat aufgehört, fortzuschreiten. Man steht still und schaut, nimmt wahr, was ist, ordnet die kleinen und großen Eindrücke. Man rappelt sich aus der Verlorenheit heraus, sucht und findet die Ruinen der alten Welt. Erinnert sich an den Abriss, an dem man so fleißig selbst mitgemacht hat. An die verlogene Stimme, die einen damals motiviert hat. Die Abdrucke auf den Händen vom Vorschlaghammer sind immer noch sichtbar.

Vielleicht ist das eine gute Zeit, um zu weinen. Aus Schmerz, Verlust, Einsamkeit. Doch irgendwann kommt die Erkenntnis zurück, dass sich neue Kraft entwickeln wird. Es ist noch nicht alles verloren. Im Grunde war es die ganze Zeit da gewesen. Das ist das Leben. Das war unser Weg, das war mein Weg. Hätten wir damals den Rattenfänger bezahlen sollen? Aber wir haben es nicht getan. Also sind wir dem Flötenspieler gefolgt, in den dunklen Wald gewandert, und jetzt hört das Lied für uns auf. Erst für wenige, dann für viele, und zum Schluss werden alle geweckt.

Jetzt geht es darum, den Weg zurückzufinden oder vielleicht einen neuen zu gehen. Wieder zur Sonne, zum Lachen, zu den Alten und den Kindern. Die vergessenen Schätze wiederzufinden. So lange wir leben, gibt es die Chance auf Liebe. Oberhalb der dunklen Baumkronen ist die Sonne, momentan vielleicht hinter den Wolken, aber nichts dauert ewig. Auch der längste Schlaf geht irgendwann zu Ende, und dann sind wir wach. Voller Tatendrang, voller Ideen und Freude.

Bin ich alt? Nein, ich bin reif. Ich würde sagen, ich bin gut ausgeschlafen und noch trunken von der Nacht. Solange ich die Kraft habe, meine Welt zu gestalten, bin ich nicht zu alt, um es zu erleben. Ich werde lernen, alt zu werden. Mit Würde, mit Stolz und mit Freude. Vielleicht lege ich mir sogar eine Baskenmütze und einen Gehstock zu? Das wäre eine tolle Sache.

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