Sringnac

Die Geschichte ist so skurril, dass ich mir nicht einmal sicher bin, ob ich sie erlebt oder im Suff geträumt habe. Aber urteilt selbst: Ich erzähle euch, an was ich mich noch erinnere.

Es war im Sommer vor etwa vier Jahren. Ich war mit meinem Fahrrad in Nordfrankreich unterwegs. Eigentlich wollte ich mit dieser Reise einem Mädchen beweisen, wie taff und was für ein großer Abenteurer ich bin. Also buchte ich einen Flug nach Brest, lud eine Karten-App herunter und machte mich auf den Weg. Im Vorfeld hatte ich nur grobe Eckdaten meiner Reise festgelegt und war mir auch über die Richtung, in die ich fahren wollte, im Klaren, aber das war auch schon alles. Weder Etappen noch Übernachtungen hatte ich geplant, und die Strecke selbst hatte ich nicht großartig überprüft. Pure Spontanität, besser gesagt volle Planlosigkeit auf meinem Ego-Trip.

Nach zwei Flügen und einer schlaflosen Nacht am Flughafen von Paris landete ich schließlich in Brest, einem kleinen Provinzflughafen mit einer Handvoll äußerst nettem Personal. Ich beobachtete das Entladen meines Gepäcks aus dem Fenster der Wartehalle. Es ging zügig vonstatten, und bald stand ich mit meinem im Karton verpackten Fahrrad und einem Bündel Fahrradtaschen, die mit Stretchfolie umwickelt waren, vor dem Gebäude. Ein wenig ratlos und verwirrt, was ich auf meine Müdigkeit schob, starrte ich in die Umgebung. Es half nichts; ich musste irgendwie los.

Ich möchte euch hier nicht mit den Einzelheiten des Fahrrad-Zusammenbaus langweilen. Genug gesagt: Nach etwa einer Stunde konnte ich vom Parkplatz starten. Mein erstes Ziel war ein alter Bahnhof, ungefähr 50 Kilometer von Brest entfernt. Den kannte ich aus früheren Reisen mit einem Camper, und dort wollte ich meine Reise beginnen oder besser gesagt fortsetzen. Denn dort hatte ich vor ein paar Jahren meine Europa-Rundreise abrupt unterbrochen.

Mit Verbissenheit und den schönen, aber vollkommen unrealistischen Plänen im Hinblick auf die erwähnte Dame kam ich relativ schnell in einen Rhythmus und legte nach etwa dreißig Kilometern meine erste Pause ein. Zu meiner großen Überraschung machten meine Beine so lange mit, wie ich fuhr; beim Absteigen waren sie allerdings mit dem Laufen überfordert. Ich fiel einfach um. Wie ein Betrunkener legte ich mich einfach auf den Boden. Vielleicht sollte ich mich doch irgendwie auf die Reise vorbereiten, ging mir durch den Kopf. Jetzt war es aber schon zu spät. Ich war mitten drin. Also kniete ich mich auf den Boden und versuchte, mich irgendwie aufzurappeln. Von der Seite musste das sehr ernst ausgesehen haben, da das Ganze vor den Ruinen einer Kirche geschah. Ein Außenstehender sah einen müden, zerzausten Reisenden, der neben einem umgefallenen Fahrrad vor einem Kreuz kniete und komische Gesten machte. Da nicht viel los war in der Gegend, gesellte sich auch niemand zu mir, um gemeinsam zu beten. „So werden die Heiligen geboren“, dachte ich. Wie auch immer, ich wollte weiter. Einen „Vater unser“ später strampelte ich tapfer in die Richtung, die mir mein Handy vorbot.

Gegen 19 Uhr kam ich am Ziel an – einem Ort, den ich als magisch empfand. Ihr müsst euch das so vorstellen: Es ist ein Bahnhof mitten im Wald, mit zwei Bahnsteigen und ohne jegliche sichtbaren  Spüren von Gleisen, und um das Ganze noch zu toppen, grasten zwei Pferde vor dem Gebäude. Eigentlich nichts Außergewöhnliches, aber sie waren nicht angebunden, und es gab auch keinen Zaun. Sie liefen einfach frei herum und verschwanden mit der Dämmerung wieder im Wald, glaubte ich zumindest.

Hinter dem geräumigen Platz gab es einen kleinen Bach. Dort schlug ich mein Zelt auf, wusch mich in dem kalten Wasser und kochte anschließend eine Suppe als Abendessen. Im Bahnhofsgebäude gab es ein kleines Lokal, und zu Feier des Tages machte ich nach dem Essen einen Abstecher dorthin, um mir eine Flasche Wein zu besorgen. Der Tropfen war nicht schlecht; man konnte ihn trinken, ohne gleich an Kopfschmerzen zu denken. Die Magie des Ortes schlug daraufhin zu, denn die Flasche war ziemlich schnell leer, was sich sehr zuverlässig mit meinem Kopf paarte. Die Gedanken an meine „Muse“ verschwanden, je mehr ich trank. Schließlich kippte ich ins Zelt und verkroch mich in meinen Schlafsack, in der Hoffnung auf einen traumlosen Schlaf.

Hufe scharten über den Kiesweg, die Nüstern schnauften in unmittelbarer Nähe. In diesem Moment änderte sich alles: Ein Mann und eine Frau sprachen im Flüsterton miteinander. Ihre Worte waren in einem unverständlichen französischen Dialekt, doch die Melodie ihrer Unterhaltung zeichnete in meinem Kopf Bilder von Zärtlichkeit, Wärme und Beisammensein. Die Geräusche veränderten sich allmählich, die Worte verschwanden, und ich hörte das Rascheln von Kleidung. Ein Wind kam auf, und die umstehenden Bäume fingen an, mit ihren Blättern zu singen. Der Bach platschte gleichmäßig und floss dahin; mit ihm schwammen meine Gedanken zu Bildern von weiblichen Körpern, von Liebe und leidenschaftlichen Küssen.

Die Erregung lag in der Luft, und ich konnte mich nicht anders verhalten, als mich dem hinzugeben, zu fließen und zum Zuhörer eines Liebesspiels zu werden, das irgendwo in der Dunkelheit vibrierte. Plötzlich blitzte es, und ein heftiger Donnerschlag folgte. Äste krachten im Unterholz, Hufe schlugen, und die Baumkronen raschelten heftig im Wind. Erste Tropfen fielen vom Himmel und trommelten auf dem Vordach. Ich wurde kurz wach und horchte in die Nacht.

Die Liebesgeräusche wurden intensiver und veränderten ihre Melodie. Mit meinem inneren Auge sah ich den Kampf zweier Tiere, Zähne sanken ins Fleisch, und Krallen kratzten an nackter Haut. Ein Jaulen voller Ekstase, vermischt mit Schmerz, hallte durch den Wald. Ein zweiter Blitz mit Donner schlug direkt über dem Bahnhof ein und hob mich wie eine Puppe, nur um mich wieder auf den Boden zu schleudern. Ich war wach, und es war alles still. Nur vereinzelte Tropfen fielen noch herab. Es war vorbei.

Verwirrt schaute ich mich um, ohne etwas in der Dunkelheit erkennen zu können. Es gab nur leise Windgeräusche, und eine seltsame Ruhe lag in der Luft – eine Art Erfüllung. In diesem Moment dachte ich an „sie“ und spürte, dass alles vorbei war. Meine „Muse“ war nicht mehr meine. Sie hatte mir nichts mehr zu geben, und auch ich konnte ihr Leben nicht mehr bereichern. Vorbei. Plötzlich musste ich für mich leben und reisen. Ich war befreit. Nun galt es zu lernen, wie man die Freiheit genießt.

Ich legte mich wieder hin und schlief sofort wieder ein. Erst gegen neun Uhr morgens wurde ich wieder wach und konnte mich nur bruchstückhaft an die Nacht erinnern. Doch der Traum kam immer wieder während meiner Reise Richtung Osten in mein Gedächtnis zurück. Leider wollte mein Ego nicht wahrhaben, dass wir das Ende bereits erlebt hatten. Aber darüber schreibe ich vielleicht ein anderes Mal…

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